Beschlussvorschlag:
Die Redezeitbegrenzung wird für den Beratungsgegenstand (Tagesordnungspunkt) „Verwaltungsmodernisierung und Haushaltsoptimierung“ aufgehoben.
Sachverhalt:
Die Zulässigkeit dieses Antrags zur Geschäftsordnung ergibt sich aus § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 10 GO, wenn man eine Aufhebung der Redezeitbegrenzung auch als eine Verlängerung der Redezeit auffasst. Ansonsten ergibt sich die Zulässigkeit des Antrags bei einer entsprechenden Empfehlung des Ältestenrats aus § 36 Abs. 6 i.V.m. § 27 Abs. 1 Satz 2 Nr. 12 GO.
Aus Sicht der SPD-Fraktion besteht erheblicher Klärungsbedarf unter den Ratsmitgliedern zu dem mit der Vorlage 16-02019-01 „Gewerbesteuerglättung“ eingeführten Begriff des „strukturellen Defizits“.
In der Sitzung des Finanz- und Personalausschusses am 21. März 2019 wurde das Thema „Strukturelles Defizit“ bereits im Ansatz diskutiert.
Der Begriff „Strukturelles Defizit“ wird auf staatlicher Ebene (Land, Bund, Europa) rege gebraucht; die Finanzverwaltung rief die Ratsmitglieder in der FPA-Sitzung dazu auf, doch einmal „Strukturelles Defizit“ zu googlen. Das haben wir gemacht.
Die erste Definition, die Google ausgespuckt hat, besagt: „Das strukturelle Defizit ist also das, was im Normalzustand der Wirtschaft (langfristig betrachtet, also wenn sich Auf- und Abschwünge ausgleichen) dennoch einen unausgeglichenen Staatshaushalt verursacht.“
(Quelle: https://www.vimentis.ch/d/lexikon/185/Strukturelles+Defizit.html)
Im Gegensatz dazu erläuterte der Finanzdezernent in derselben FPA-Sitzung: [Unser Begriff] „strukturelles Defizit heißt nicht, dass es ein überzeitlich, gewissermaßen für die Stadt Braunschweig vorgegebenes Defizit ist, das über die Jahre immer gleich bleibt, weil es strukturell ist und sich nicht ändern kann. Es ist einfach nur ein Rechenweg, um gewisse Schwankungen rauszunehmen. Trotzdem ändern sich ganz viele Rahmenbedingungen an einem solchen Haushalt, und »strukturell« bedeutet dann quasi nicht »völlig unveränderlich und für alle Jahre richtig«. Deswegen berechnen wir es auch jedes Jahr neu.“
Bei genauem Lesen kann man in diesem Sinne durchaus den Abschnitt 1.7 „Strukturelles Defizit“ im Vorbericht des Haushaltsplans verstehen: „Unter Beibehaltung der im Jahr 2016 von der Verwaltung entwickelten Berechnungsmethode (vgl. Stellungnahme Nr. 16-02019-01), die seitdem unverändert angewandt wurde, liegt [das strukturelle Defizit] im Haushaltsjahr 2019 bei rd. 50 Mio. €.“
Auch die Definition an zweiter Stelle bei Google löst nicht, wie von der Finanzverwaltung angedeutet, die Sprachverwirrung auf. Dort heißt es: „Mit dem strukturellen Defizit wird der Teil des Gesamtdefizits der öffentlichen Haushalte mittels Zeitreihenverfahren ökonometrisch geschätzt, der dauerhaften Charakter hat, sich also nicht im Laufe eines Konjunkturzyklus selbsttätig abbaut oder durch gesetzlich befristete Maßnahmen begründet ist.“ (Prof. Dr. Wolfgang Eggert, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Lehrstuhlinhaber des Instituts für Wirtschaftstheorie und Finanzwissenschaft (Autor dieser Definition) unter https://wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/strukturelles-defizit-46668)
Definition Nr. 3 bei Google liefert Folgendes: „Das strukturelle Defizit ist eine um konjunkturelle und Einmalfaktoren bereinigte Maßgröße für die Finanzierungslücke in den öffentlichen Haushalten. Es spiegelt das über den Konjunkturzyklus hinweg bestehende Haushaltsdefizit des Staates wider. Für die Wirtschaftspolitik eines Landes ist das strukturelle Defizit von besonderer Bedeutung, weil nur der dauerhafte Anteil des Haushaltsdefizits langfristig die Stabilität der Volkswirtschaft gefährdet… Das strukturelle Defizit ist daher ein Indikator für den Konsolidierungsbedarf im Staatshaushalt, den Betrag, um den das Haushaltsdefizit durch Einnahmeverbesserungen oder Sparmaßnahmen verringert werden muss.“ (Quelle: ifo Institut, Center for Economic Studies (CES) unter https://www.cesifo-group.de/de/ifoHome/facts/Aktuelles-Stichwort/Topical-Terms-Archive/Strukturelles-Defizit.html)
Kurz und knapp bringt es folgende Definition auf den Punkt (die Google bei unserer Recherche an Stelle 6 listete):
„Konjunkturelles und strukturelles Defizit: Konjunkturell bedingt ist der Teil des Defizits, der auf einem ungünstigen Konjunkturverlauf beruht. Wenn die Konjunktur schlecht ist, gehen die Steuereinnahmen zurück, und die Staatsausgaben etwa für Sozialhilfe und Programme gegen Arbeitslosigkeit steigen. – Strukturell ist der verbleibende Teil des Defizits, also der Teil, der unabhängig vom Konjunkturverlauf Jahr für Jahr wegen der grundlegenden Struktur des Haushalts entsteht.“ (Quelle: https://www.staatsverschuldung.de/begriffe.htm)
Und nun, das ist Gegenstand des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen (19-10392), hat die Finanzverwaltung in der Vorlage 19-10038 dem Rat zum 12. Februar 2019 mitgeteilt: „… ist es das Ziel, bis zum Ende der kommenden Kommunalwahlperiode 2021-2026 einen dauerhaft ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Dies bedeutet aus heutiger Sicht ein Konsolidierungsergebnis von jährlich ca. 50 Mio. €.“ Liegt dabei die Betonung eigentlich auf „aus heutiger Sicht“ oder auf „jährlich“, also „jedes Jahr“, und widersprechen sich die beiden zeitlichen Bezugnahmen nicht? Soll das etwa wirklich heißen, jährlich müssten 50 Mio. € eingespart werden, wie die Zeitung berichtet hat? Legt man die von der Finanzverwaltung mit Vorlage 18-08670 vorgelegte mittelfristige Finanzplanung daneben, ergäbe eine solche Interpretation jedenfalls keinen Sinn; nach der Planung der Finanzverwaltung besteht 2021 ein Fehlbetrag von 2,6 Mio. € und 2022 ein leichter Überschuss von 0,6 Mio. € im Ergebnishaushalt.
All dies macht deutlich, dass es dringend erforderlich ist, dass sich der Rat über diffuse Begrifflichkeiten, die durch das niedersächsische Haushaltsrecht unstrittig nicht definiert sind, und über die finanzielle Situation der Stadt und den notwendigen Handlungsbedarf – nach Möglichkeit einvernehmlich – verständigt. Aus unserer Sicht könnte eine Aufhebung der Redezeitbegrenzung dazu beitragen. Die SPD-Fraktion ist jedenfalls bereit, zu einer Klärung der entstandenen babylonischen Sprachverwirrung beizutragen.
Gez. Christoph Bratmann